City Walk Berlin
Laß uns antreten, Berlin zu entdecken: Wir nehmen uns ein paar Tage Zeit und haben großes Interesse an den Mythen, Widersprüchen und Klischees der Stadt. Möge Berlin an ästhetisch inspirierten Orten helfen, das Dasein zu verstehen.
Einst stand hier die Mauer im Weg. 160 Kilometer Monströsität führten im Zickzack durchs Zentrum und kreisten die West-Sektoren ein. Checkpoint Charlie. Verwandte von Drüben winken aus Fenstern, Peter Fechter flüchtet und verblutet im Grenzstreifen: Das Checkpoint-Museum liefert bildintensive Geschichtstransfusionen. Breschnew geht direkt ins Blut. Dann der Mauerfall und danach das Neue Berlin, in dem wir dann wieder stehen - an Sandsäcken, die mit Zement gefüllt Geschichte parodieren. Großformatige Fotografien von Soldaten des Kalten Krieges hängen wie Resterinnerungen über der Zimmerstrasse. Sie lächeln, denn alles ist gut. Statt Hitler und Frontstadt nun erneut Großstadt.
Die Fingerabdrücke der Stasi sind übertüncht, jetzt verkehrt hier mit Rang und Namen die Kunst. Marken wie Wilma Tolksdorf und Volker Diehl in der Zimmer- und die Galerie Jablonka in der Kochstraße warten in ambienteneutral renovierten Fabriketagen mit internationaler Ware auf. Arndt & Partner füllen mehrere Etagen, bei Upstairs Berlin und Jette Rudolph ist nachvollziehbar, dass man in den Räumen einst wohnte, und Tammen und Seitz & Partner genießen die Sicht auf die einzige diagonal überquerbare Kreuzung Berlins. Niemand seilt sich ab. Das war damals, als die Gebäude Mauer waren. Man kann sie wie einen Geist auf der Fahrbahn sehen. Jetzt also Pop und Großraumkunst für mutige Loftbesitzer. Wir lassen uns inspirieren und lernen, dass Berlin ein steinerner Berg ist, dem zu begegnen gutes Schuhwerk lohnt, denn es geht steile Wendeltreppen hinauf, durch deren Kachelfester man zum ehemaligen Reichsluftfahrtministerium hin auf erstaunlich viel Brachland blicken kann.
In den Hinterhöfen spielten vor hundert Jahren die Arbeiterkinder des von Zille beobachteten Berlin-Milljöh. Heute ist die Gegend eigentümlich antiurban. Das tragische Mauer-Image und die geschichtlichen Traumata stadtplanerisch zu kurieren wurden unspektakuläre Büroblocks in den Grenzstreifen gestellt. Man riss am Checkpoint einen Wach- und Kommandoturm ab, auf dem post Wende noch eine goldene Freiheitsstatue saß, das American Business Center an seiner Stelle aber wurde nie gebaut. Lange Zeit herrschte Leerstand, dann schlug die Kunstwelt zu. Der ausliegende Galerien-Rundgang-Flyer ist hilfreich, die bisweilen verborgenen Orte zu finden. Einzig die flairvolle Wall Street Gallery des Bildhauers Peter Unsicker mit Skulpturengarten und Privatgemach weiß um die Dramen der Zeit, als die Mauer drei Meter vor der Türe stand. In den Hinterhöfen der garagenartigen Kunsthallen von Klosterfelde und Kai Hilgemann werden panzergroße Installationen zersägt. Ecke Friedrichstraße das Tschechische Zentrum mit Ausstellung, die Verlagsredaktion von European Photography und das historisch gepolsterte Cafe Adler. Auch Daad, Buchmann, Max Hetzler und Barbara Weiss bezeugen, dass die zeitgenössische Kunst ein großer Exportschlager Berlins ist. Rhizomartig entstehen weitere Nester des Ästhetik: Carlier Gebauer, Scheiblermitte und die neue Filiale von Barbara Thumm belebten barackenartige Hallen zwischen Weiterbildungsstätten, türkischem Hochzeitsclub und Arbeitsamt, und ein paar Schritte weiter sind im Galerienhaus Lindenstraße 34/35 acht Galerien unter einem Dach vereint.
Abseits der nahen Friedrichstadtpassagen und des Gendarmenmarks, dem angeblich schönsten Platz der Stadt, herrscht Frösteln bewirkende Unwirklichkeit. Originaleinschüsse aus Kriegstagen und zugenagelte Altbausubstanz mit vermutlich ungeklärten Besitzverhältnissen. Bistros für Broker und Friseure mit Fotografien im Fenster. Das Russische Haus wirkt wie ein Grabmal. Der Besuch der Ausstellungshallen führt geradewegs in Jelzins Seele und aufs Glatteis des Modernen. Die Jägerstraße um die Galerie Loop Raum gleicht dem Inneren eines Bunkers und ist weit skurriler als der Glaskegel in der Handtaschen-Galerie Lafayette nebenan. Die Brüche von neu und alt, visionär und historisch verklärt lassen hilfloses Planungsvakuum vermuten, sind aber auch ein charmant ehrlicher Charakter Berlins: Es gibt noch viele Nischen für produktive Zwischenfälle, und immer mehr Innovationsfreudige scheint das Klima des Abseitigen in Zentrallage zu reizen. Auch Klassiker wie die Porzellan-Manufaktur Meissen, der traditionsreiche Schokoladen- fabrikant Fassbender & Rausch und Stiche Düssel mit historischen Stichen aus dem ganzen Land erobern den punktuellen High-Style um die Friedrichstadtpassagen und dem dortigen Autotrümmer-Kunstwerk Turm von Klythie.
Jüngst noch Sackgasse zur Mauer, war die Leipzigerstraße früher vom Potsdamerplatz über die Wilhelmstraße bis hin zum Spittelmarkt des Kaisers Wilhelm II Einkaufsstraße und während der Zwanziger Jahre das Zentrum der Boheme. Alles wie vom Erdboden verschluckt. Heute blickt man an der Durchfallstraße durch Plattenbaureihen, die 1969 als Sichtriegel wider den 1966 direkt an die Mauer gesetzten goldenen Axel-Springer-Bau errichtet wurden und die Gegend auch visuell zum Zonenrandgebiet erklärten. Nur noch die Taz siedelte sich im ehemaligen Zeitungsviertel an. Ab Checkpoint nehmen wir den historischen Feldweg zum Gropiusbau. Hinter der von Souvenirjägern zermeißelten Mauer das Dokumentationsgelände Topografie des Terrors: Das einst prächtige Prinz-Albrecht-Palais war während der Nazizeit eine der gefürchtetsten Adressen Deutschlands und Hauptziel der Luftangriffe auf Berlin, denn in ihm tobten Gestapo und Waffen-SS. Vom Palais blieb nichts. Der Martin Gropius Bau nebenan – ehemals Kunstgewerbemuseum – wurde Kriegsruine. Joseph Beuys bespielte sie in der Nachkriegszeit. Später Wiederaufbau, jetzt Tafelsilber. Wir verpassen es nicht, auch gegenüber in den ehemaligen Preußischen Landtag zu schauen. Dort räumliche Pracht, die Regierung Berlins, eine Geschichtsausstellung und eine Kantine.
Potsdamer Platz
An der Stresemannstraße ist der Himmel über Berlin historisch verdickt, und wer im Checkpoint-Museum gut aufgepasst hat, den holt an der Ecke zum Potsdamer Platz die Vergangenheit ein: Neben dem Altbau, der einst unzugänglich im Mauerstreifen lag (heute Restaurants), ragte eine von der Magnetschwebebahn-Teststrecke flankierte Plattform über den Todesstreifen, der hier extrem breit war. In ihm Wachtürme, Grenzsoldaten und Hundepatrouillen. Mienen gab es nicht. Auf Westseite kriegsschuttbefreites Brachland. Dort ragt jetzt die Neue Mitte Berlins empor. Sony setzt auf Technik durch Glas und Stahl, und Daimler simuliert Kiezfröhlichkeit. Berliner führen ihre Gäste hierher, weil alles so toll ist. Der Kunst im Viertel widmet sich die Daimler Collection im einzig alterhaltenen Gebäude – auch die Baumallee vor dem Weinhaus Huth konnte wie durch ein Wunder die kilometertiefen Baggerseen der Bauekstase anno 1998 überstehen. Lohnend ist die Aussicht vom zentralen, metropolishohen Backsteinturm und das Museum für Film und Fernsehen und die Berlinale versprühen cineastischen Esprit. Tief im Untergrund liegt das grellbunte Legoland-Discovery-Center, in dem Kindern mit Dschungel, 3-D und Fabriksimulation die Fantasie zauberhaftlos ausgetrieben wird. Den Mythos Lego übersieht die Show. Irritierend eng ist die Lobby des Hyatt Hotels (da hängt die Kunst aus der Zimmerstraße), und am Marlene-Dietrich-Platz hat man Geländer angebracht, nachdem zu viele staunende Touristen in den Kunstsee fielen.
Das zwölf Fußballfelder große Areal mutet an, in der Wüste Nevadas zu stehen. Um so beeindruckender, immer wieder. Um visuelle Anschlüsse ins historisch gewachsene Berlin ist man bis heute bemüht. Gen Mitte hin entsteht in den originalen Grundrissen des Leipziger Platzes ein achteckiges Büroufo im Ausmaß der Niagarafälle, gen Norden versiegt das Architektonische entlang des Tiergartens, nur westwärts, am Kulturforum finden wir historisch nachvollziehbare Substanz: Philharmonie, Kunstgewerbemuseum und Staatsbibliothek waren mutige Annäherungsversuche an eine Mitte Berlins, die es mauerbedingt 28 Jahre lang nicht gab. Allzu lange stand die einst im Großstadtgetümmel gelegene St. Matthäus-Kirche als Ruine in der Brache. Kultur sollte Zeichen setzen und die Kunst erhielt Tempel. Die von Mies van der Rohe (Bauhaus) erbaute Neue Nationalgalerie ist der Klassiker der Moderne: quadratisch das Dach, antik-authentisch die Säulen, nicht sichtbar das Glas. Einfacher geht es nicht. Man kann die Würde des Gebäudes noch wochenlang spüren. Demgegenüber hat man die Museen der Europäischen Kunst an der weitläufigen Piazzetta geradezu begraben: Die wiedervereinigten Schätze des 18. und 19. Jahrhunderts liegen unter einer Rampe, die Skateboardfahrer lockt.
Mitte
Vom Potsdamer Platz, der einst nur eine große Kreuzung, 1923 aber verkehrsreichster Platz Europas mit der ersten Ampel Berlins war, gelangen wir über die neuen Ministergärten und das Holocaust-Mahnmal in die gute Stube Berlins, wie Max Liebermann sein Wohnumfeld am Brandenburger Tor umschrieb. Es ist seit 1791 das wichtigste Stadttor und genießt verkehrsberuhigte Gelassenheit. Fototafeln erinnern ans Gestern. Der Besucher hat endlich Auslauf und kann rundum neue Bauten fotografieren. Ein Leierkasten macht Stimmung mit Berliner Luft, Luft, Luft, und Friedrich die Große berichtet aus seinem Leben. Souvenirhändler stören nicht, denn sie haben Platzverbot. In der Akademie der Künste tobt die Kunst, nebenan haust die Riesenkrake des Architekten Gehry im Axica-Innenhof des DG-Bankgebäudes, das Hotel Adlon ist plüschintensiv, die Französische Botschaft hat den Eingang hinterm Haus, und die Amerikanische Botschaft wurde nach jahrelangen Sicherheits- und Straßenverengungsdiskussionen am historischen Originalort wiedererrichtet. Kennedy ist da! The Kennedys ist ein von Camera Work volkskompatibel kuratiertes Museum. Könnte auch im Schöneberger Rathaus sein, wo John F. seine Ich-bin-ein-Berliner-Rede hielt, dort aber präsentiert Willy Brandt schon sein Lebenswerk. Rechts am Tor ein Raum der Stille für erschöpfte Touristen. Wir trinken Tee bei Tucher.
Der Reichstag bietet Kuppel, Kunst und historisches Graffiti, und die politisch bespielten Neubauten stehen wie Skulpturen im Grünen. Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus zeigt der Kunst-Raum des Deutschen Bundestages in wechselnden Ausstellungen Highlights der hauseigenen Sammlung. Unter den Linden geraten wir in die Schlacht um Berlin: Die Touristenshops toppen sich mit Bierkrügen, Mauersteinen und dem Fernsehturm als Ohrenstöpsel. Wären die Mauerstücke alle echt, hätte es sich in Berlin um die Chinesische Mauer gehandelt. In den Shops ist nicht nur endgültig die Mauer weg, sondern ganz Berlin. Einzig Berlin Story ist angenehm kitschübergreifend sortiert. Vor der Türe realiter der Fernsehturm, der wie eine Wünschelrute den Weg weist. 1969 als Ulbrichts Protzkeule ins Zentrum der Hauptstadt der DDR gesetzt, hat er als Berlin-Symbol dem Brandenburger Tor längst den Rang abgelaufen. Er ist Kult. Klein, aber fein präsentiert sich die Dependance des Guggenheim Museums.
Wieder Friedrichstraße. Sie wurde an den Linden zur Schlucht umgebaut. In den Antikmärkten unter den S-Bahn-Bögen finden wir kistenweise historische Postkarten, Zinnfiguren, Stadtpläne und Gründerzeitliches. Am Bahnhof Friedrichstraße absolvierte man bei der Einreise in die DDR den Zwangsumtausch und nahm bei der Rückreise am Tränenpalast Abschied von den Freunden aus Ost. Dort jetzt Großbaustelle. Links im ehemaligen Warenhaus für Armee und Marine war seit 1977 die Amerikanische Botschaft. Gleich hinter den einstigen Betonmopsinstallationen der Botschaftsbarrikaden residiert Short Art Volume mit ´Kunstausstellungen von kurzer Dauer´. Die Galerie bespielt auf zwei Etagen spannend verwinkelte Zwischennutzungsräumlichkeiten, von denen Galeristen und Eventbetreiber nur träumen können. Am Berliner Ensemble grüßen wir Bert Brecht und Heiner Müller, und biegen in die Marienstraße zur Galerie Argus Fotokunst. Sie wartet mit klassisch gereifter Fotografie auf. Nebenan das feine Arte Luise Kunsthotel, in dem zeitgemäß in Pop Art schlummert. Das Viertel rund ums Deutsche Theater ist italienisch anmutende Vorstadt und politisches Wohnzentrum. Den 2000 Menschen fassenden Reichsbahn-Bunker füllte der Kunstmäzen Christian Boros mit einer exquisiten Kunstsammlung. Am tragisch wirkenden Friedrichstadtpalast vorbei irren wir im abenteuerlich architektonisierten oberen Teil der Friedrichstraße ins viergeschossige Art Center Berlin und genießen die Aussicht.
August- & Linienstraße
Nach der Wende war das Kunsthaus Tacheles [2], das als Atelierkollektiv, Multifunktionshaus und Symbol des Störens in wuchtigen fünf Etagen wie ein Mahnmal ins Viertel ragt, der Auslöser des Galerienbooms rund um die Auguststraße. Ost-Berlin war Halbruine, die Kunst machte Spaß, und die Galerien boten Bastel- und Aufbau-Terrain. Aktionsgalerie, Wohnmaschine, Eigen-Art und Kunstwerke waren in der Zeit des Wilden Ostens erst mal Klempner. Nun ist der Stuck erneuert, man wurde offen fürs Exquisite und sieht sich umzingelt vom konkurrenzintensiven Hochpreissegment. Nur das Tacheles feiert Ruinennostalgie. Anfangs gab es nicht mal Strom, die Parties im Dachgeschoß, dem Massengrab im Keller, den man nur durch eine Luke erklettern konnte, und im Cafe Zapata waren wild. Neben den Ateliers und dem Zapata blieb vor allem der Mythos, die Metallschmiede Kalerie und die Freifläche als Sandkasten für Revolutionsinspirierte. Doch die Touristen, die Künstler, Berliner und die Nachwuchsnutten blieben der Gegend treu.
Einen der prunkvollsten Bauten der Oranienburger Straße bespielt die Galerie c/o Berlin professionell mit Standards internationaler Fotografie. Die Reihe Talents widmet sich dem Nachwuchs. Man riecht in den weitläufigen Etagen noch die Zigarren der 40er Jahre - von hier aus fuhren einst Kutschen die Post aus. Weithin sichtbar die goldene Kuppel der Neuen Synagoge, dem einst größtem jüdischen Gotteshaus Deutschlands. Es war kriegszerstört und ist nur teilweise wiedererrichtet. Nebenan die fußballfeldgroße Kunsthalle von Sprüth Magers, und zwei Ecken weiter brillieren die Kunstwerke mit gesellschaftspolitischer Brisanz. Man ist herausgefordert und sieht sich an der Spitze der Zeit: Bisweilen konnte Berlin durch Stil, Weltgeist und Kompetenz ein Stück der Utopie einlösen, die man während der Aufbruchseuphorie nach der Wende vor Augen hatte.
Nun geht alles rasend schnell, denn zwischen August- und Linienstraße geraten wir in den Sog des Gallery Hopping - überall Galerien, die alle gleichzeitig voll sind. Open door bei Häppchen und Sekt. Man macht schnell Bekanntschaft und trifft sich ohnehin alle paar Minuten um ein paar Blocks versetzt wieder. Kuckei+Kuckei zeigt globale Vielfalt, und Blickensdorff führt bei „photo connected art“ auf eine holzbetäfelte Veranda im Freigehege eines Hinterhofes. Bereznitsky führt in die Ukraine, Bartko-Reher sind die Profis historischer Postkarten, und bei Imago Fotokunst trifft die Fotografie des Aktuellen über Workshops und Fachlabor auf die Ikonen des Bewährten. Im Kulturhaus Mitte erreicht man über alte Stiegen Kunst auf mehreren Etagen, das Institut für Auslandsbeziehungen ist mit ausländischen Beziehungen vor Ort, und Eigen-Art und Wohnmaschine versammeln einen mutigen Mix aller Genres. Die Neue Aktionsgalerie will Farbe als Event, Walter Bischoff vertritt schier die halbe Welt, und die Seven Star Gallery im Scheunenviertel bereichert das bröckelnde Altbauambiente samt Geisterkeller mit Fotografie. Das Digital Art Museum in der Tucholskistrasse ist die Zentrale für Computerkunst, während Kicken und Berinson wie zum gesunden Ausgleich die letzten Jahrhunderte auf den Punkt bringen.
Alles in Bewegung: Wöchentlich entstehen neue Kunst-Orte, andere verschwinden. Neulinge mischen mit Witz und Frische die Szene auf. In der Galerie für Fotografie und Grafik erwartet uns in einer Wohnung mit Großküche und Sofas ein Salon mit fotografischem Zirkel. Wir haben Kuchen mitgebracht. Die Anwälte Streifler & Kollegen erweiterten ihre gründerzeitprächtige Kanzlei zum Kunstraum, die Kunstagenten operieren experimentierfreudig und feiern im Partykeller, und Stedefreund gelingt die „Kunst der produktiven Verwirrung“ schon dank der Vollbeton-Galerie: Selten befindet man sich intensiver in einem Gebäude. Herrmann Wagner am Koppenplatz ist nordisch ausgerichtet und bietet im Keller Arbeitsräume für junge Künstler. Nebenan lädt Petra Rietz regelmäßig in einen weiteren Salon für Fotokunst, bei Nadania Idriss gibt es Glaskunst und Fotografie, Jan Neuffer steht voll auf Berlin, Barbara Wien kombiniert Galerie mit Kunstbuchhandel, die Förderkoje ist als fliegender Händler eine mobile Galerie, und Janecki bietet neben Bilderrahmenservice seltene Vintage Prints auch online an. Das alles – und noch viel mehr – auf engstem Raum in der erfreulich krachfreien Urbanität der vorstädtisch anmutenden Zentrallage. Von den etwa 400 Berliner Galerien findet sich hier die größte Konzentration. Es trieft Farbe von der Wand, es wird gehäkelt und gehäckselt. Die Kunst wankt zwischen Versuch, Brillianz und Spektakel. Man staunt, und alle bleiben cool.
Wiederbelebung erfolgt durch den Ernst der Welt bei Cicero, der Galerie für politische Fotografie, und nebenan im Ruinenambiente des Hauses Schwarzenberg bei Neurotitan und comic-affiner Verwirrung. Im zweiten Stock das rennomierte Anne Frank Zentrum, und im Durchgang die ehemalige Blindenwerkstatt, in der der Kleinfabrikant Otto Weidt blinde Juden vor den Nazis schütze und beschäftigte. Sie produzierten Besen und Bürsten. Seit Jahren droht dem Hinterhof Sanierung, dabei würde ihm aus touristischem Kalkül Unberührbarkeit gebühren. So morbide sah das benachbarte Prestigegebiet der Hackeschen Höfe auch mal aus. In Deutschlands größtem geschlossenen Hinterhofareal lecken Touristen busweise an den quietschbunt restaurierten Jugendstilkacheln. Bei Lumas machen sie Schnäppchenjagd, in Hof III setzt der außergewöhnliche A trans Pavilion auf künstlerisch-architektonische Visionen, Hof VIII wartet bei Edition Wunderbild mit naiver Pop-Art auf, Golem fertigt Fliesen an, und im güldenen Festsaal offeriert der Berliner Uhrenhersteller Askania Kultexemplare für Flugzeugfans. In der legendären Künstlerbar Eschschloraque nebenan endlich einen Schnaps auf die Kunst! Die Ausstellung der Dead Chickens unter dem Kino Central hat zu.
Mit zugemauerten S-Bahn-Bögen und Kopfsteinpflaster wirkt die im hackeschen Touristen-Pulk startende Dircksenstraße wie der Weg in die Bronx. Hier Barbara Thumm in monumentaler Pose. Gleich um die Ecke in der Rochstraße landen wir bei CoopTV, einer skurrilen Shop-Bar, in der großformatige Politparolen angeboten werden. Um die Ecke Boss - mit Ausstellungs- und Partykeller - und die Großen der Mode, und im Abseits der exklusiven Mitte ragt wie ein Steinbruch die Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz empor, das Epizentrum theatralischer Intensivspektakel. Und was ist das? Schon wieder ein Nest! Teils neue Galerien – wie praktisch – en bloc: Auf der Wiese ein von der Volksbühne mit Kunst bespielter Glaspavillon. Am Filmkunsthaus Babylon (Ausstellungen in der Empore) residiert Magnus Müller an einer runden Ecke, ein Stück zurück Kuttner & Siebert und in videotauglich düsterem Betonparterre die Galerie Kamm. Der Verein Rosa Luxemburg Platz versucht der Kunst im öffentlichen Raum des Platzes Herr zu werden.
Torstraße
Dann endlich Großstadt mit Krach: Die Torstraße liegt wie eine Landebahn zwischen Mitte und Prenzlauer Berg. Auch hier waren einst Stadtmauer und Stadttore, heute ist sie auf erfrischende Weise voll des Kunst- und Designwildwuchses. Die Initiative Förderband unterstützt stadtweit brotlose Künstler – deren es viele gibt. Über 90.000 Kunstschaffende versuchten sich 2003 angeblich am Ruhm. Wir landen in der schrillen Kultur- und Siebdruckwerkstatt Fleischerei, wechseln in die Privatwohnung zu zuviel TV, wo monatlich einmal in kommunikativer Runde Kunstvideos zum Besten gegeben werden und besuchen – wie passend - die regelmäßig mit Bietern und Suchern stattfindende WG-Party im Kaffee Burger. Dort tanzen wir die Nacht über im Originalambiente eines DDR-Restaurants Polka.
Gleich gegenüber bei Fenster 61 hängen in monatlichem Wechsel Berliner Fotografien im Schaufester. Wir nehmen die steile Christinenstraße. Hier wird es unrestaurierter, die großen Betonplatten auf dem Gehweg atmen Geschichte. Es ist ruhiger als Downtown. Als Stadtteilarbeit im Nachbarschaftshaus betreut die Initiative Pfefferwerk die GalerieF92. Das Meinblau ist Atelierhaus und seit Jahren bekannt für anspruchsvollen Aktionismus. Tief in der Erde befindet sich ein Labyrinth von Lagerräumen der einst hier ansässigen Brauerei am Pfefferberg. Gegenüber im weitläufigen Hof die Architekturspezialisten der Galerie Aedes. Das riesige, noch immer unrestaurierte Backsteingelände ist Kulturzone mit Biergarten. Nebenan veranstaltet General Public in einem (noch) unrestaurierten Haus Happenings im spannend geschnittenen und möblierten Projektraum. In der Schwedterstrasse die weltweit vielleicht kleinste Galerie an einer historischen Zapfsäule: Die Freie internationale Tankstelle FIT offeriert Freilluft-Lounge mit Strandkörben. Ein paar Hausnummern weiter das Atelierhaus Milchhof, seit Jahren eine Brutstätte der Kunst aller Richtungen, und gegenüber in einem Gewerbehof der Projektort Glue (no web?!), in dem die Wände nicht nach jeder Ausstellung blendend weiß gestrichen werden. Die Friendly Society kombiniert Kunst mit Musik, Kleidung und Bar. Ecke Kastanienallee wohnt der Fotograf Peter Woelck und verkauft in seinem Parterreatelier Klassiker seiner Fotografien zum Selbstkostenpreis. In der Zionskirche agierte er im Widerstand von Oppositionellen und Jugendlichen wider das DDR-Regime. 1987 wurden Besucher und Punks eines inoffiziellen Konzerts der Band Element of Crime von Skinheads unter den Augen der Volkspolizei verprügelt. Heute bietet die Kirche unrestaurierte Kontemplation – die weitläufige Empore wird für stadtrelevante Fotoausstellungen genutzt. Am Platz gegenüber essen wir in der Weinerei und zahlen, soviel wir können. Das macht man da so.
Prenzlauer Berg
Das ehemalige Mauerblümchen Chorinerstrasse mit alpiner Steigung gen Prenzlauer Berg mauserte sich zu exklusiver Lebensqualität: Die Galerie Hunchentoot platziert auf zwei kompakten Etagen zeitgenössische Positionen, Jan Wentrup lädt in einen Hinterhof, Rosenrot kreiert Motivationsbilder im Kleinformat und Fame and Glory ist Kostüm- und Mode-Atelier mit Ladengeschäft. Moschi Moschi kombiniert Berlinmotive für die Wandnutzung, Kunstschwimmer gibt Berliner Künstlern unter christlichem Segen eine Change, und das Maecenasforum betreibt unkommerziell, doch bankenfinanziertes Art-Banking. Ecke Schwedter entsteht der Pocketguide PeeGee, Onkel Philipp repariert von Kindern Zerstörtes und ist Berlins unkonventionellster Spielzeugladen, und der Spätkauf unterm Efeu ist teuer, doch beliebt.
An der Casting-Run genannten Kastanienallee stoßen wir auf Jungdesigner, Künstler, Kreativ-Arbeitslose und Neuberliner, die tags Milchkaffee und abends Bier trinken. Viele Schnickschnackgeschäfte, alles ist hip hier. Im Hinterhof an der Nummer 32 opulent die Berlin Rock Photo Galerie, im Hinterhof an Nummer 12 die Galerie Kurt im Hirsch mit Abendöffnungszeit, und unterm Efeu gegenüber die Galerie Walden im Tuntenhaus des altbesetzten und kollektivbewirtschafteten Hauses Morgenrot. Wir blättern im kostenlosen Veranstaltungsmagazin Stressfaktor und prägen uns die Termine der stadtweit täglich wechselnden Volxküchen ein. Die Massen vorbeiziehender Jungmenschen verblüffen. Sie machen Party, shoppen, arbeiten und können kaum wissen, dass hier mal alles anders und post Wende durchaus interessanter war. Die selbst für Berliner Verhältnisse breite Oderbergerstrasse war einst Sackgasse zur Mauer, nach deren Fall war bis auf eine Metzgerei und die Feuerwehr alles vernagelt, und heute toppt sie mit Pril-Blumen-Flair. Der Hauptraum der Kneipe Nemo wurde vom Berliner Cartoonisten Ol bemalt, VEBOrange stillt die Bedürfnisse nach 70er-Jahre-Inventar, nur das Stadtbad Oderberger [2] steht immer noch leer. Die KvU, Kirche von unten, einst Ostberliner Stachel im Fleische kirchlicher Selbstzufriedenheit, agiert in der Kremmenerstraße im Keller mit Punk.
Die Kulturbrauerei dagegen wurde zur Hochburg des kulturellen Wuselns. Touristen brechen an der Touristeninformation mit Kopfhörern zum literarischen Sound-Seeing-Rundgang auf. An der verkehrsapokalyptischen Eberswalder-Kreuzung mit dem berlintypisch freischwebendem U-Bahnhof von Alfred Grenander die kommunale Galerie im Prater und die Imbißkoryphäe Konnopke. O3-Open hilft Künstlern beim Coming Out, und bei Luxus International können Kleinkünstler ausstellen, indem sie Platz im Verkaufsregal mieten. Ein Fotograf beklebte die Schaufenster eines leeren Ladengeschäfts mit seinen Abzügen, hinterließ aber keine Kontaktdaten. In den historischen Wasserspeichern am Wasserturm, der einst umgeben von Windmühlen vor den Toren der Stadt lag, erleben wir bei irritierender Akustik Klangkunst im Labyrinth. Keine Anzeichen einer friedlichen Revolution gibt es an der Gethsemane-Kirche. Der Prenzlmaler präsentiert seine Werke bei Sonne am Zaun der Kirche und bei Regen in der Greifenhagener 15. Einst war im LSD-Viertel Lychener-, Schliemann-, Dunckerstraße nicht viel los. Leere Häuserzeilen bröselten in bedrohlichem Grau. Welch Blendung, als post Wende nach und nach grellfarbene Läden öffneten und die WIP (Wohnungsbaugesellschaft im Prenzlauer Berg) eines der größten Sanierungsgebiete Deutschlands aufteilte. Die Ostlampen gaben gelbes Licht, Trabis husteten, es roch nach Kohleofen und Telefonanschlüsse waren selten. Künstler, Dissidenten und Altbaufreunde trafen sich im Kyrill oder privat, denn die Förderung öffentlicher Treffpunkte hatte die DDR-Regierung nicht vorgesehen. Man wollte den Bezirk abreißen, um auch hier die Vision des Plattenbaus zu realisieren, doch fehlte das Geld, die Halbruinen zu beseitigen. Viele Wohnungen hatten die Außentoilette auf halber Treppe. Arschkalt war es. Der Begriff aus der Gründerzeit war bis vor Kurzem Realität.
Der Kollwitzplatz belebte sich mit Westberlinern und Schwaben zunächst im Cafe Westphal (jetzt schicke Pizza). Doch auch die legendäre Kommandantur am Wasserturm, die Lychener60 und den Torpedokäfer gibt es nicht mehr. Jüngst hatte die Zentrale Randlage, Aktionsverein für zeitgenössische Medien und urbane Subkultur, wegen Unterkunftsentzug zu weichen. Speiche in der Raumerstraße und dem Dunckerclub gebühren Orden fürs authentische Durchhalten. August Fengler war früher Keglertreff und beim Schusterjungen ißt man noch heute Original. Sonst alles rundum neu, edel und voll. Der Phase der Hundehaufenslaloms (1995) folgte die der Kinderwagenralleys (2002), und wer heute keinen weiteren Shop für Kinderzubehör eröffnet, wird als Spätverkäufer reich. Doch mag der Prenzlauer Berg noch die mithin jüngste Bevölkerungsdichte der Republik aufweisen, er ist älter geworden. Studenten ziehen heute woanders ein, denn es ist teuer. Die Charlottenburgisierung ist vollzogen. Das atmosphärische Museum Prenzlauer Berg an der Prenzlauer Allee versucht im geisterhaft großen Haus dem Wiederaufbau des Kiezes mit wechselnden Ausstellungen zu folgen. An authentischem Ort wird in der Dunckerstraße vom Stadtleben um 1900 erzählt: Bei Zimmermeister Brunzel im ersten Stock ist die Zeit stehen geblieben. Fotos von Familie und vom Helmholtzplatz mit Ofenziegelei. Noch der Eieraufbewahrungskäfig hängt im Spind und den Kühlraum unterm Küchenfenster gibt es bisweilen heute noch.
Am Platzhaus, einem ehemaligen Trafohaus am Helmholzplatz ist Open-Air-Malaktion mit Tee, wir bewundern die Windskulptur und rasten vorm Wohnzimmer. In der Schliemannstraße spezialisierte sich der junge Brite der Captivation Studios auf Ekstaseporträts seiner Mitmenschen, das Ballhaus Ost an der Pappelallee ist Galerie, Theater und Lounge, und SupaLife in der Raumerstrasse setzt auf Galerie und Kiosk für Kleinkunst. An der lauten Schönhauser die Kinderkunstgalerie Klax. Wir irren einen Nachmittag mit Kiezbewunderung umher, schalten nach zuviel Milchkaffee auf Kampftrinken um und lassen und von den Trommlern im Mauerpark mitreißen. Der ehemalige Grenzstreifen ist Teil des Radweges nach Usedom, die Lichtinstallation im Gleimtunnel funktioniert leider nicht, doch wir nehmen ohnehin die andere Richtung: Durchs wohltuend abseitige Bötzow-Viertel hinab zur Greifswalder gelangen wir am legendären Knaack Club in den Kunstklub Berlin, der, wie auch die Galerie December nebenan, in verwinkelten und sympathisch tapetenfreien Räumen Außergewöhnliches versammelt. Ecke Hufelandstraße der erste Bio-Döner Berlins.
Weißensee / Pankow
Jenseits der Ringbahn empfängt uns in der Brotfabrik und der Fotografie-Galerie im ehemaligen Pferdestall Bodenständiges. Wir genießen die Ruhe der Hofbegrünung und fragen uns, wohin wohl die Original-Prenzlauerberger gezogen sind. Nach Weißensee? Wollen wir sehen! Um mobiler zu sein, nehmen wir ein Call a Bike. Dreigeschossige Altbauten, Neubauburgen von der Stange, viel Grün, Gebäuderuinen und nichts kreischt den Hip hier. Man spürt, der Ostmensch ist weitgehend unter sich, die Dörfer des Landes sind nah. Namhafte Fotografen sind in der Behaimstraße Dozenten der Ostkreuzschule im idyllischen Kleinbau eines ehemaligen Gehöfts. Fotografische Hinweise in der Durchfahrt zeigen: Hier gärt der Berliner Blick. Der mächtige Turm der kriegszerstörten Bethanienkirche erinnert als Verkehrsinsel der Pistoriusstraße an prächtige Gründerzeiten. Ein Pionier im nicht eben von Galerien übersättigten Bezirk ist die Galerie Abakus in der Parkstraße. Das Kulturhaus Peter Edel dagegen wurde abgewickelt, nur die Galerie Wallywood verblieb als Event-Treff der Weißenseer Kreativszene. Doch zu dumm, jetzt ist sie auch geschlossen. Im nahe gelegenen, schon 1672 gegründeten, ersten Jüdischen Friedhof Berlins bestaunen wir überdauernde, von Efeu überwachsene Grabmonumente, um dann in Richtung Plattenbaubrachialität Hohenschönhausen zu radeln. Ganz nah machen wir Picknick im großen Garten des kleinen Mies van der Rohe Hauses, das am romantischen Obersee mit vollendeter Bauhausarchitektur herausfordert. Der benachbarte Orankesee lockt mit Biergarten. Am Weißen See wird es mit Planschwiese und historischem Milchhäuschen nebst Aussichtsterrasse wieder geradezu urban. Kampfhunde und Plüschtiere werden Gassi geführt. Ans nahe Brecht-Haus erinnert ein Schriftzug unter dem Dachgiebel. In Richtung Heinersdorf stoßen wir auf Studenten der einst dem Bauhaus verpflichteten, in einem Trakt der ehemaligen Schokoladenfabrik Trumpf untergebrachten Kunsthochschule Weißensee. Mode, Design, Architektur, Malerei und Bildhauerei stehen auf dem Lehrplan.
Dem Lauf der Panke [2], dem aus Bernau kommenden letzten Zufluss der Spree, folgend, erreichen wir Pankow. Das Schloss Niederschönhausen, in dem Friedrich II seine ungeliebte Frau Elisabeth Christine ´entsorgte´, erhielt mit dem Einzug Wilhelm Piecks, dem ersten Präsidenten der DDR, eine Mauer, die es bis heute vom Park isoliert. Nach der Restaurierung wird das Schloss, das DDR-Gästehaus war und in dem der Runde Tisch tagte, zu besichtigen sein. In nur einer halben Stunde Radfahrt vorbei am herrschaftlichen Bürgerpark und dem weitläufigen Botanischen Volkspark könnten wir uns hinter Blankenfelde im ersten guten Badesee im Norden Berlin erfrischen, doch wir cruisen durch das Botschaftsviertel mit seinen bauklötzchenartigen Villen, und erobern die City of Pankow. Die Galerie Pankow ragt am Dorfanger mit Jubelbalkon im großräumigem Altbau feierlich gen Stadtmitte. Wir flanieren über die Alles-ist-billig-Einkaufspromenade, schauen ins burgartige Rathaus Pankow und nehmen die Straßenbahn zum Rosenthaler Platz.
Brunnenstraße
Hier ist wieder Schluss mit Idylle. Wo nach der Wende Beate Uhse erste Farbakzente ins schläfrig-graue Stadtbild setzte, herrschen heute Verkehrsgetümmel, Mietpreisexplosion und Kunst: Ein neues Kreativbiotop breitet sich gen Wedding aus. Die Brunnenstraße ist die Zentrale des gegenwärtig Neuen und Wilden. Künstler und Galeristen legen Hand an, es werden Räume besetzt, es wird renoviert, improvisiert und etabliert. Wer groß sein will, leistet sich Farbe, um die Auren vergangener Ausstellungen bis in die letzten Winkel durch Weiß zu vertreiben. Farballergiker sind mit Schutzmaske da. Heckenhauer zeigt deutsche und internationale Fotografie, Gillian Morris wartet mit allen Genres auf, ebenso Martin Mertens, montanaberlin, Nice and Fit, Capri und die Galerie Amerika, die sich – tolle Idee – nach Kafkas unvollendetem Roman benannte. Das Zagreus Project arbeitet an der Schnittstelle von Galerie und Kochkunst, Curators Without Borders setzen auf den Mut unabhängiger Kuratoren, Komet Berlin ist eine Produzentengalerie für figurative Ausdrucksformen, und die von mehreren Künstlern betriebene Galerie en passant versteht sich als Produzentengalerie auf Wanderschaft.
Jedes dritte Gebäude beherbergt Kunst. Alle wollen auffallen, fast alle fallen auf. Mal ist die Kunst schrill, mal laut, und selbst wenn sie still ist, funktioniert sowohl das Netzwerk der Interessierten als auch die Gelegenheit zur Inspiration. Berlin bietet sowohl ein extrem innovationsoffenes Publikum als auch unüberschaubar viele Nischen, Aktionen und Bündnisse. Auch Berlinern bleibt die Stadt auf fast bedrohliche Weise Neuland. Klar, man könnte sich auch für Berliner Brücken interessieren – Berlin hat 916 -, Park- und Kleingartenhoppings veranstalten oder sich auf Denkmale und Skulpturen im öffentlichen Raum, auf U-Bahn-Stationen oder auf Einkaufszentren konzentrieren. Wer der Kunst folgt, hat den Vorteil, auf kommunikationsfreudige Gemeinschaften zu stoßen, denen nicht zwingend lange beizuwohnen ist, die dennoch Einblicke in die Tiefen und Abgründe der Stadt und des Lebens erlauben. Mittenmang, sagt der Berliner. Vernissagen sind kluge Parties ohne den Suff der berlintypischen Sperrstundenlosigkeit. Kunstrundgänge bieten Entertainment mit Stil, und durch die frühe Abendzeit der Ausstellungseröffnungen kann der Abend kaum je versaut werden. Selten genug, private Räume ungeniert betreten zu können und gleich ein Glas Wein angeboten zu bekommen. Also weiter durch die Brunnenstraße – zum nächsten Glas. Es herrscht super Stimmung, man trinkt Bier aus der Flasche und feiert Avantgarde, Aufbruch und Trash. Warhol hängt auch. Ohyescoolgreat.
Wohl dem, der überlebt. Die bislang kleinste Fotogalerie Berlins, der Foto Shop, wurde aus dem Haus geklagt, doch fand in einer Altbauwohnung Platz für neuen Enthusiasmus. Die Akademieschule Fotografie am Schiffbauerdamm agiert unter dem neuen Label Neue Schule für Fotografie. Eine ehemalige Möbelfabrik organiseirt neben Jugendparties wöchentlich unter dem Motto One Week Ausstellungen Berliner Fotografen und Künstler im großräumigen Kellerlabyrinth. Im Umfeld viele handkolorierte Hinterhöfe. Das Style-Magazin Sleek entsteht in der Brunnenstraße, bei Risi Bisi kauft man Handgearbeitetes, im Umsonst-Laden ist alles umsonst, und die Bilder im Tattoostudio sind auch schön. Alteingesessen und rundum renoviert ist der Alternative Kunstverein Acud am Veteranenberg, das Puppentheater Mirakulum spielt auch für Erwachsene, musikalische Entspannung verspricht der King Kong Club und im Weinbergspark gibt es Drogen und Picknick am See. Unser ästhetisches Gleichgewicht finden wir in der Zone B am oberen Ende der Brunnenstraße bei anspruchsvoll Kleinformatigem, und zur Kur wird der Aufenthalt bei Photeur am Berggipfel. Jenseits des Lärms um Farbe und Aktion findet sich dort erlesen Belichtetes. An der Kante zum Wedding, wo an der Bernauerstraße 1985 die im Mauerstreifen störende Versöhnungskirche gesprengt wurde, bespielt die Galerie Feinkost einen architektonisch bemerkenswerten Flachbau, der einst Kulinarisches bot. Wieder stoßen wir auf den Kunstkontakter, der mit auf dem Helm montierter Kamera Künstler, Gäste und Galeristen interviewt, um die Reportagen auf seine Webseite zu setzen.
Die Brunnenstraße ist, wie fast ganz Berlin, graffitigesättigt. Nicht nur die Galerienszene Berlins, auch die Stadt selbst stieg zum angesagtesten Showroom Europas auf: Streetart mauserte sich zur erfrischendsten urbanen Agitations- wie Wahrnehmungsform. Die meist nachtaktiven Aktivisten schöpfen ihre Botschaften aus dem Unterbewussten der Stadt und versuchen das Bewusstsein der Stadtbewohner zu schärfen. Schon vor Jahren gelang es CBS, durch großformatige Schriftzüge ihres Claims an allen Wänden, großstädtische Traumata in Zeichen zu setzen. Die geballen Fäuste in meist unerreichbarer Höhe gehören mittlerweile zu Berlin wie die Designattacken der BVG. SP38 müht sich seit Jahren, die Mitte-Bourgeoisie durch Schriftparolen wie Who kills Mitte auf Plakaten zur Läuterung zu bringen. Alias demaskiert mit portraithaften Eindringlichkeiten die mediale Oberflächlichkeit, Noel hinterlässt an den Tatorten seiner cartoonartigen Geschichten einen augenzwinkernden kleinen grünen Wurm, und !!6_or_SeX.4rtist.com [2] machte die Stadt mit seinen 6-en zu einem Symboldschungel, der so dicht ist wie die Stadt selbst. Nichts ist vor ihm sicher. In der Invalidenstraße arrangierte er eine Baustellenruine zu einem Tempel. Obey setzt markante Maskengesichter, Bonk sampelt Images, think konfrontiert uns mit grinsenden Robotern, Dolk spiegelt auf raue Weise raue Wirklichkeiten wider, und Swoon zeichnet fantasieintensive Gestalten. Durch die Techniken von Stencils, Sticker und Schablonen wurde die Urban Art wider das bloße Verschmieren und Taggen von Wänden und das Zerkratzen von Scheiben anspruchsvoll, erwachsen und beliebt. Die Kommentare zu Zeitgeist und Weltgeschehen richten sich - gleich vieler Blogs wider die Presse - wie Souffleure gegen die Banalitäten von Werbung und stadtplanerischer Perfektion. Zwar haben die Akteure nach wie vor – Reiz muß sein - mit Verhaftung und Geldstrafen zu rechnen, doch als Community formieren sie sich zu einer erfolgreichen Gegenöffentlichkeit. Just und Ecosystem bloggen die Szene, und Kunstvermittler wie die ATM-Galerie in der Brunnenstraße, die Circleculture Galerie in der Gipsstraße und Zero Projekts in Kreuzberg machen sie salonfähig.
Manche bleiben der Rebel Art konsequent inkognito treu. Sie sind zumeist nachts unterwegs und bisweilen rasch auf der Flucht. Mit Spray, Aufdrucken oder Schnittmuster, mit Farbeimer, Pinsel und manchmal mit Leiter. El Bocho verbreitet das drollige Mädchen Little Lucie und erhängt massenweise Katzen am Strick. Emess thematisiert Gewalt und gab dem großformatigen sterbenden Soldaten eine Spraydose als Waffe. Ony2 bringt geschichtliche Prominenz in Erinnerung, doubelt die Jungs und Mädels aus der Nachbarschaft an Wände und verbreitet Sticker auf Straßenschilder. Mente ist Spezialistin für die Verwandlung von Kaugummiautomaten, M-City liebt großflächige, aus Schablonen entstehende Stadt-Silhouetten, und Evol verwandelt Stromkästen in Plattenbauten. Xoooox persifliert die Modewelt und fügt seinen filigran agierenden Figuren kreuz- und blasenähnliche Sprechsymbole zur Seite, Nomad wurde durch die Ausrufezeichengesichtfigur Mr. Friendly, durch Eierdotterwesen und grinsende Hunde prominent, und Cupk durch eine aggressiv grinsende Kopfgestalt mit Brille und Helm. Auf der Website bietet Cupk Schnittmuster seiner Hauptfigur. Ebenso Pixelpopulation, der seine Piktogramme der heiteren Art europaweit streut. Litekultur kultiviert Jesus-loves-You durch Plakate und Aktionen, Sta_tik verdichtet architektonische Fantasien, und No Hoof No Groove hinterlassen Pferdehufe auf Gehwegen. Czarnobyl klebt detailintensive Klonfiguren und Technikvisionen, der Citysampler fotografiert Graffiti und klebt die ausgedruckten Auszüge als Zitat neben die Originale, und Bimer bringt lustvoll Berliner Bären zum Tanzen. Viele der Aktivisten verstehen ihr Treiben als ultimative Möglichkeit, jenseits von Kunstbetrieb und Medien Aussagen zu platzieren, doch spätestens durch zahlreiche Buchveröffentlichungen und die Projekte Backjumps und Urban Affairs wurden einige zu galerienkompatiblen Stars. Bisweilen legen die Galeristen auch selbst Hand an: Wer auf sich hält, setzt eine Spraybanane an die Hauswand der Galerie. Schablonen gibt es beim Bananensprayer.
Ohnehin ist der öffentliche Raum Berlins neben der offiziellen wie privaten Stadtmöblierung vielfältig besetzt: Überlebensgroße Buddy-Bären bringen Butterfahrt-Touristen in Ekstase, doch Ästhetikbegabte zur Verzweiflung. Die Wall AG entsorgte historische Pissoirs, einst Cafe Achteck genannt, um an aerodynamischen Automatik-Klos Werbung plazieren zu können. Berlin wird immer schöner. Doch die Stadtguerilla schläft nicht: In Nacht- und Nebelaktionen zerstören Unbekannte großflächige Anzeigenplakate, was zu großem Leid in der Werbebranche führt. Die Hedonistische Internationale revolutioniert die Freude am Protestieren durch Tanz, diverse Gruppen versenken den geplanten Bürostadtteil Mediaspree, Guerilla-Gärtner bringen illegal grün in die Stadt, und Reclaim the Sparkasse organisieren Überraschungs-Parties in Geldfilialen. Extrem extremistische Aktionen sind selten, doch manchmal brennen Autos.
Wir machen uns im Internet-Café schlau. Es gibt über 100 berlinspezifische Plattformen und Tools. Das Kunst Magazin Berlin liefert den täglichen Routenplaner für Vernissagen, beim Kunst-blog finden wir Hintergrundberichte, die offizielle Hauptstadtkampagne Sei.Berlin sammelt Geschichten und Botschafter, und Luise-berlin.de ist ein leidenschaftlich angelegtes und umfassendes Berlin-Lexikon. Restmodern.de archivierte außergewöhnliche Berlinarchitekturen, DDR-Fotos.de blickt ostwärts zurück, Spreeblick ist das Berliner Blog-Headquater, Visueller Orgasmus postet herausragendes Online-Disign, MeinBerlinversucht sich als Mitmach-Tool, und Das Kurze Glück vereint Originelles. Watch Berlin dokumentiert die Stadt in Portraits und Reportagen, Architekturvideo.de sammelt internationale Architekturvideos, Kubische-Panoramen.de hält Berliner Rundumblicke bereit, Berliner-Untergrundbahn.de ist eine Fundgrube für U-Bahn-Fans, und Stadtentwicklung.Berlin.de und DHM.de sind die Profis der Berliner online-Präsenz. Auch virtuell sind Nischen bisweilen aufschlussreicher als Großgrundprojekte. Institutionen neigen dazu, online die Dimensionen ihres Profils zu ignorieren, wenn sie Hintergründe und Geschichtliches dem Business as Usual opfern. Stichwort freiwillige historische Verantwortung: Was nützt uns ein Berliner Urgestein im Web 2.0, das z.B. nicht auf seine Zerstörung im 2. Weltkrieg hinweist!? Suchmaschinengeschädigt sortieren wir die gesammelten Galerien-Flyer, die wir wie Jagdtrophäen zusammen trugen. Sie sind die zentralen Kommunikationsmedien der Galerien und liegen mit unterschiedlich aussagestarkem Goldrand versehen akkurat aus. Mike Riemel dokumentierte die Flyer-Soziotope umfassend in Buchform.
Invalidenstraße
Unweit der mächtigen Brunnenfigur des Geldzählers an der Invalidenstraße die Dauerruine der schinkelschen Elisabethkirche. Dahinter konzentriert sich Rosalux in einer ehemaligen Eckkneipe auf portugisische Kunst. Wir setzen unseren Erholungsspaziergang gen Ackerhalle fort und erstehen bei Monochrom, Spezialist für Fotografiezubehör, verlorene Objektivschoner. Galerie in der Empore. In der Architekturgalerie Müller bezeugen Modelle, Fotos und Skizzen das weltweite Baugeschehen. Neben der Event-Institution Schokoladen war die Redaktion des umsonst-Magazins für Mitte Scheinschlag, dessen Einstellung stadtweit für Entsetzen sorgt. Die Räume werden jetzt vom Club der polnischen Versager mit nächtlichem Kulturmix bespielt. Zurück an der Torstraße eine Offensive von Kunst und Kommunikation: Die nach dem Vormieter und DDR-Fußballer benannte Galerie Sparwasser HQ bietet im nichtkommerziellen Projektraum Artistik Talks. Gleich nebenan und ebenfalls mit Bürgersteigbespielung das Substitut mit Kunst aus der Schweiz. Die Janine Bean Galerie bezog das Refugium eines alten China-Restaurants, in dem der Club White Trash berühmt wurde, und in der Gartenstraße erfreut sich Schuster der Fotokultur. Loris bietet in trendübergreifenden Rundumschlägen Fotografie, Video und Installation, und xanthippen-wilde Frauen führen die Insel-Galerie im markanten Plattenbau an.
Zum Nordbahnhof wird es ruhiger, es lebt sich angenehm im Schatten des Fernsehturms. Der Kiosk Shop Berlin bietet interessant Verpacktes im Dauerverkauf, junge Fotografen gründeten in der Borsigstraße die offene Fotografengemeinschaft Neunplus zur Förderung der Autorenfotografie, und der Neue Berliner Kunstverein NBK gibt neben der Großraumgalerie Einblick in ein ausgezeichnetes Videokunstarchiv. Gleich gegenüber setzt die Wilde Galerie auf Malerei. Gemütlich geht es bei Brecht zu: Wir lassen uns an der Chausseestraße durch das Wohnhaus führen, in dem er einst lebte. Quietschende Straßenbahnen begleiten uns danach zum Kunstpunkt, einer ost-sphärischen Galeriengarage an einem lichten Garagenhof. Gegenüber Pop-Art der Beat Galerie. Zur weiteren Lockerung unserer Gebeine besichtigen wir die Dinosaurierskelette in den alten Gemäuern des nahen Naturkundemuseums. Womit wir fit sind für die vielleicht feierlichste Kunstpräsentation Berlins: Über der Spree der Hamburger Bahnhof, das Museum der Gegenwart mit der Sammlung Marx, der Flick Collection und dem Medienarchiv Joseph Beuys. Es dauert. Das internationale Parkett lässt uns einen Moment die Not der Seitenstraßen-Kunst vergessen. Auch gegenüber, im Medizinhistorischen Museum der Charite gibt es mit Sonderausstellungen und Föten in Glas spannende Themen.
Charlottenburg
Weil der aufregend neue Berliner Hauptbahnhof direkt am Museum steht, nehmen wir den Weg nach Charlottenburg im Sitzen. Steigen aber bereits in Tiergarten aus, um die Schätze der Königlichen Porzellan Manufaktur KPM zu besuchen. An der Straße des 17. Juni [2] kommen die Studenten der TU im Autos, da das Mittelsteifenareal vor dem Imma-Haus viele Parkmöglichkeiten bietet. Direkt am ehemaligen Knie, dem heutigen Ernst-Reuter-Platz, an dem eine metallene Flamme der Leidenschaft des Papa-von-Benz- und Schaut-auf-diese-Stadt-Bürgermeisters Ernst Reuters gedenkt, läd das Architektur-Museum der TU zur urbanen Reflexion. Es befindet sich in einem lichten Tunneltrackt. Wir sind an der zwölf Kilometer langen Ost-West-Achse, die Hitler als Via Triumphalis vom Brandenburgtor bis nach Staaken als militärische Schneise durch die Stadt schlug. Im Zuge der Ausbauplanungen zur Welthauptstadt Germania [2] musste 1934 die älteste Strecke der Straßenbahn weichen, die seit 1865 vom Kupfergraben durch den Tiergarten nach Charlottenburg führte. Dort stehen noch heute die Straßenlampen aus Hitlers Federzeichnung, die man post WKII nicht einriß, da Hitler nicht als Architekt versagt hatte. Doch aber: Noch vor dem WKII hätte man ihn lynchen können, das Charlottenburger Tor – erst 1906 als stolzes Pendant des Brandenburg Gates entstanden - im Zuge der Straßenverbreiterung durch Auseinanderschiebung nachhaltig verunstaltet zu haben. Schon damals haben die Deutschen versagt. Wider besseren Wissens ahmten dann die 70er-Jahre-Architekten die Ostplatte nach und veredelten die kriegszerstörte Gegend zur Hochhausparodie. Der Versuchsanstalt für Wasserbau und Schifffahrt ist die Frischfarbe verloren gegangen. Nichts wie weg, wir nehmen den Tiergarten durchs Gaslaternen-Museum [2], trinken im Schleusenkurg ein Alster und riechen es dann am Zoologischen Garten: Knut ist ganz nah.
Am Bahnhof Zoo parkte Helmut Newton einen Cadillac voller Blondinen. Dem Meister wurde eine mit privaten Souvenirs dekorierte Gedenkstätte zuteil. Im selben Gebäude, unterm Dach, das charmante, weil unrenovierte Museum für Fotografie, das 2004 als eine Abteilung der Kunstbibliothek gegründet wurde. Gegenüber der Dauerbaustelle Zoofenster bestaunen wir im Beate Uhse Museum auf mehreren Etagen erotische Zeugnisse aus aller Welt. Einen Steinwurf entfernt residiert die Galerie Camera Work, die einzige börsennotierte Aktiengesellschaft des Photo-Kunstmarkts mit einer der größten Foto- und Fotobuchsammlungen der Welt. Charlottenburg. Zur Orientierung umkreisen wir die „hohler Zahn“ genannte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in der an Modellen zu sehen ist, dass die Gegend vor dem Krieg noch prächtiger war. Trotz der Versuche der letzten Jahre, den Ostteil der Stadt anzuhübschen und mit Shopping zu füllen, ist die Gegend um den 3,5 km langen Kurfürstendamm nach wie vor die Konsum-Seele Berlins. Alle Frauen über 40 waren gerade beim Friseur. Die Gegend ist verkehrsintensiv weltstädtisch, und man spürt, dass es das 19. Jahrhundert gegeben hat. In den ruhigen Seitenstraßen viele der traditionsreichsten Galerien Berlins.
Neben dem intellektuellen Zentrum, dem Literaturhaus nebst Café, bietet das renommierte Auktionshaus Villa Grisebach Klassiker der Moderne. So auch bei Anna Augstein, Springer & Winckler und manch anderer zwischen Lietzenburger Straße und Schloss Charlottenburg angesiedelter Galerie. Bei Lumas treffen wir Fotografien vom Hackeschen Markt wieder, das Hotel Bogota erweiterte Foyer und Speiseräume zur Galerie für Fotokunst, und Brusberg beliefert die nahe gelegenen Villen mit gartentauglichen Skulpturen. An einer Brandmauer des S-Bahnhof Savignyplatz seit 1986 das Kunstensemble Weltbaum. Wir flanieren einen prächtigen Nachmittag zwischen Bleibtreustraße – Bleibtreu Galerie – und Uhlandstraße – Kunstbüro Berlin –, genießen die Charlottenburger Cafés und nehmen die U-Bahn zur Kommunalen Galerie Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz. Und kommen in eine Gegend, die wir freiwillig nicht besuchen würden: Ausfall- und Einfallstraßen kreuz und quer. Das U-Bahn-Dekor aus Plastik und die Naziarchitektur am Platz sind den Kulturschock wert. Doch auch der Charme der mehrstöckigen und verwinkelten Galerie lohnt.
Schöneberg
Die Kunstschätze in den nahen Villen des Grunewalds sehen wir nicht, da uns der Doppeldeckerbus zum Lützowplatz fährt. Dort die Galerie Eva Poll und das Haus am Lützowplatz, das als Bonus mit einer Gartengalerie aufwartet. Nebenan wieder ein Klassiker: Das Bauhaus-Archiv bezeugt das nachhaltige Wirken der ehemaligen Schule für Design, Kunst und Architektur. Gegenüber überragt der Neubau der CDU-Parteizentrale wie ein Schiff am Kanal ein neues Luxuswohnviertel mit Botschaften, wo man früher Volksfest feierte. Fünf nördliche Länder sitzen vereint im grünen ´Elchbau´ der Nordischen Botschaften und bieten Ausstellungen im Gemeinschaftshaus. Mexiko erstrahlt in stringentem Sonnenstrahlraster. Überm Tiergarten die Goldelse genannte Viktoria auf der Siegessäule. Nichts wie hinauf! 1871 nach preußischem Sieg u.a. über die Franzosen errichtet, stand sie ursprünglich am Reichstag, von wo aus Hitler sie umtopfte, da er Platz für Paraden brauchte. Die Franzosen mochten die Säule verständlicherweise nicht, als sie Alliierte in Berlin waren. Sie wollten sie sprengen, doch stand sie im Britischen Sektor und den Briten gefiel der Pillar, der schon wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hatte. Zu dumm: Seit die Franzosen nach Paris verschleppte Reliefplatten verloren, fehlen sie am Sockel der Säule. Wir schleppen uns nach Besichtigung der heillos verlotterten, doch berlin-authentischen Ausstellung die von Kritzeleien der letzten Jahrzehnte übersäten Wendeltreppe empor. Grüner geht´s nicht! Sagenhafte Aussicht. Man glaubt, Berlin sei im Wald. In der Tat ist Berlin eine der grünsten Städte Europas: Abzüglich des Parkbestands steht durchschnittlich alle zwölf Meter ein Baum.
Am Nollendorfplatz und dem Metropol steht die Geschichte Schlage: Der Bau war Theater, Kino und - mit dem legendären Loft Konzertbude mit dem frühen Bowie als Gast. Nun versucht es Goya exklusiv. Vielleicht erbarmt sich auch bald die nahe Schwulenszene und macht wieder Disko. Die Maaßen ist der Kudamm für Kenner und am Winterfeldplatz feiert man samstäglich Markt und sich selbst. Südlich, im Herzen des wohletablierten, antiquariats- und cafereichen Schönebergs, die mathematisch orientierte 18 m Galerie für Zahlenwerte in der Tradition der Berliner Salons, und das kommunal betriebene Haus am Kleistpark. Gleich nebenan zog das Vilém Flusser-Archiv in die Universität der Künste und lädt zur Lektüre des Mediendenkers.
An der Potse [2] herrscht Berliner Schnellgang. Es ist urban: krachig, schäbig und kiezintensiv. Der Sozialpalast will Wohnen im Regal. Er musste um einen Bunker gebaut werden, der sich als unsprengbar erwiesen hatte. Ecke Bülowstrasse die erste, 1902 erbaute U-Bahn mit der Linie 1. Sie fährt in Charlottenburg unterirdisch und wird dann zur Hochbahn mit Aussicht. Wir steigen Möckernbrücke aus, um Blumen zu kaufen, den Bahnsteig-Blumenladen voll fotografierter Blüten, die es wahlweise als Bild oder am Stängel im Topf gibt, aber gibt es nicht mehr. Imposant liegt das erneuerte Technikmuseum am künstlich angelegten Landwehrkanal, der der Schiffahrt, der Bewässerung und der Landabwehr diente. Wir gelangen zur SPD-Parteizentrale im Willy-Brandt-Haus, das auf mehreren Etagen sozialaffine Ausstellungen bietet. Gleich nebenan das besetzte Tommy Weissbecker Haus mit Kneipe, Konzertraum und viel Farbe. Die Gegend ist voller West-Platte der 60er Jahre. Zwischen den Hochhäusern Spielplätze, Geschäftemangel und viel Grün. Ganz nah zwei weitere Kunstzentren: Das Jüdische Museum von Daniel Libeskind ist der wohl spektakulärste Neubau der Stadt. Er testet das seelische Gleichgewicht der Besucher. Dahinter zog die traditionsreiche Berlinische Galerie, die einst im Gropiusbau überzeugte, in einen lichten Neubau.
Kreuzberg
Das Hallesche Tor, an dem Friedrich-, Wilhelm- und Lindenstrasse enden, bildete mit Stadttor und Kanal einst die Grenze zum Land. Auf einen damals weithin sichtbaren Berg setzte Schinkel 1821 nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon das Nationaldenkmal im Grundriß des Eisernen Kreuzes [2]. Es sollte dem Bezirk, der im Zuge der rasanten Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts entstand, den Namen geben. Dem Ackerbau folgten Straßenbau und Mietskasernen. Der künstliche Wasserfall zu Füßen des Denkmals fließt schon seit 1888. Am Belle Alliance Platz, dem heutigen Mehringplatz, über dem eine Miniaturausgabe der Goldelse fliegt, tut es weh, die einstige urbane Pracht mit der Gegenwart vergleichen zu müssen. Zwar gibt es den mit intellektuellen Weisheiten ins Pflaster eingelassenen Pfad der Visionäre, doch Hans Scharoun zerstörte durch sein raumschiffartiges Betonrondell noch die letzten Reste historischer Vernunft. Spätestens hier wird deutlich, dass die heutige Urbanität Berlins nur die Schrumpfversion einstiger Pracht ist. Das Plebs, das ins Billig-Kaufhaus Domäne geht, signalisiert kulturpolitische Verzweiflung. Einzig die Amerika Gedenkbibliothek AGB, nach dem Krieg als Re-Education wider die faschistoisierten Berliner gegründet, bietet Kultur. Schon makaber: Einige Bücher, die Anfang der 60er verliehen wurden, konnten erst nach der Wende zurückgebracht werden. Ernüchtert ziehen wir uns auf den Jerusalem-Friedhof zurück und besuchen E.T.A. Hoffmann.
Die Kantine im Hochhaus des Bezirksamts Kreuzberg über der Yorckstraße bietet exzellente Rundumsicht. Unter uns Riehmers Hofgarten, in dem die Gründerzeitpracht wider die gewohnte Enge der Mietskasernen auch die Hinterhöfe prägt. Berlins zahlreichste Hausdurchsuchungen erlebte der Mehringhof. Die Hinterhausenklave bündelt linkes Wissen, publiziert es und agiert wider die Schäubleschen Gesellschaftskrankheiten. Der Buchladen Schwarze Risse ist Verlag und selbstverwaltetes Kollektiv, und die Konzertkneipe Clash bietet professionellen Krach. Wir nehmen den für Berliner Verhältnisse steilen Mehringdamm. Den beritten bereits Könige und Kaiser, um am Tempelhofer Feld, dem heutigen Gelände des Flughafen Tempelhof [2], Paraden abzunehmen. Im Schwulen Museum erhalten wir Minderheitennachhilfe und Aufklärung, und das Cafe Melitta Sundström erinnert an die Berliner Top-Tunte der 80er, die der ebenfalls früh verstorbene Fotograf Jürgen Baldiga verewigte. Ecke Bergmannstrasse bemalen wir bei Paint your Style in kreativer Höchstleistung Teller und Tassen. Und veräußern sie – denn Galerien sind nicht in Sicht – gewinnbringend in den zahlreichen Trödelläden, die die Bergmannstraße prägen. Flanieren scheint Alltag zu sein, man kennt sich, alles ist gepflegt gemütlich. Die Marheineke-Markthalle, in der man sich noch jüngst um Jahrzehnte zurückversetzt glaubte, überlebte durch zeitgemäßen Style-Update. Um den Chamissoplatz leben die Alt-68er und gießen Geranien auf stuck-gestützten Balkonen. Kreuzberg 61 war schon immer gesetzter als der ehemalige Postbezirk 36. Das Arcanoa wirkt mit Metall-Mobiliar und Wasserlauf überm Tresen wie ein Dejavú. Die Welt ist heil: Kneipen und Imbisse klappen gegen elf die Bürgersteige hoch. Das Ramones-Museum musste schließen.
Dann eine andere Welt: Am „Kotti“ genannten Kottbusser Tor [2] in Kreuzberg sind wir inmitten Klein-Istanbuls. Alles türkisch hier und geprägt vom Punk vergangener Hausbesetzerzeiten. Am U-Bahn-Geländer hängen Fahrradleichen. Wir bewundern das Wohnmonster, das die Adalbertstraße überragt. Der Leckerbissen für Sozialfotografen wurde in den 60ern als Schallschutz erbaut: Man wollte das dahinterliegende Viertel zugunsten einer Autobahn abreißen, kam vom Vorhaben jedoch ab, das Viertel verfiel und bot billigen Wohnraum für Gastarbeiter und Studenten. Letztere etablierten Kreuzbergs Ruf autonomer Lebenskunst und kultivierten Randale. Das Kreuzbergmuseum gibt Auskunft. Hinter dem monumentalen U-Bahnhof setzen sich die Klötze mit Schießschartenbalkonen fort, und in der Schule in der Admiralstraße kämpft Bildung mit Backstein und Beton. Türkische Kinder spielen auf sparsam umgrünten Pfasteranlagen, die im verkehrsinfernalischen Umfeld Heimat und Idylle sind. Halbstarke üben Revierverteidigung. Ecke Kanal verwöhnt sich die Kreuzberger Traditionselite in den luftigen Wohnungen des gotischen Traumhauses von Hinrich Baller, der architektonisch beweist, dass Beton auch fantasievoll gestaltbar ist. Der Urbanhafen zu Füßen des von Kranken gefürchteten Urban Krankenhauses ist bis hinüber zum Minigolfplatz der sommerliche Mallorca-Ersatz. Hohe Bäume, kleine Geschäfte, urige Kneipen und Verkehrsberuhigung machen den Graefekiez zu einem begehrten Wohnquartier.
Neukölln
Studenten, Kreative, Freigänger und Frühfeierer genießen die Ruhe an der Reling der Ankerklause. Die Kottbusser Brücke und den türkischen Wochenmarkt ereilt seit einigen Jahren ein quirlig neuer Kulturmix, denn Neukölln findet ungebrochen Zulauf. Viele Initiativen sind spontan, putzmunter neu und freuen sich auf Entdeckung: Im Vitrinenladen von Klötze & Schinken in der Bürknerstraße sind wir im Kreuzkölln genannten Reuterkiez und finden im puppenhausähnlichen Ambiente Inhalt und Sinn bei Kunstutensilien der intelligenten Art. Man sitzt auf dem Stuhl am Bürgersteig und hat Nachbarn zum Tee. Auf Lokalkolorit konzentriert sich die Galerie Malerei & Graphik, die Siebdruckwerkstatt SDW beliefert die Kieze mit Plakatkunst und Stoffdrucken, die Galerie Frei-Ruum bespielt ein lange leer gestandenes Ladenlokal mit überregionaler Ausstrahlung, und in der Weichselstraße herrscht geradezu Kunststau: Art-Uhr ist eine Vielraumgalerie mit internationalem Flair, die Kunst-Apotheke La Farmacia dell’Arte frönt des kreativ kindlichen Spiels, und Ohrenhoch hat auf zwei Etagen Geräusche im Sortiment. Das Labor in der Fuldastraße fördert im Experimentierraum internationale Subkulturen, die Musenstube pflegt als bunter Utensilienladen den Spaß des Aktionismus, und Opfer von Ekstasen gelangen im Künstlertreff der Selbsthilfeinstitution Galerie R31 aus der Suchtkunst. Man künstlert, bastelt und schraubt. Auch der Einzelhandel praktiziert Improvisationskunst, auch weil es – in der Tat – ums Überleben geht.
Die Arbeitslosenquote liegt bei über 30 Prozent und von den 300.000 Einwohnern hat rund ein Drittel sogenannten Migrationshintergrund. Am Rathaus Neukölln herrscht Einkaufsrummel im Bilka-Schick. Türkische Mädchen sind auf Dessous-Jagd und Männer tragen Jogginghose und Tüte. Döner macht schöner. Auch Woolworth ist Kult, zumal Sinn Leffers und Quelle wegen mangelnder Kaufkraft abzogen. Trotz vieler Neuzuzügler bestimmen Türken und Prolls den Charme Neuköllns. Dart-Clubs, Imbisse und türkische Vereinsheime sind voll. Es riecht nach alten Gardinen, Kohleofenstaub und leer stehendem Altbau. Manche machen die Gegend schlechter als sie anderen ist. Noch die Rütli-Schule stieg jüngst in den Modesektor auf. Neukoelln-TV.de berichtet vom Dasein, das Künstlernetz Neukölln vernetzt, und das Kulturnetzwerk gibt Überblick und versetzt den Bezirk jährlich bei 48 Stunden Neukölln in berlinweite Euphorie. Musikalischen Kult schufen Icke & Er, die Deutsche Nationalhymne wurde schon mal durch die Superhymne ersetzt, und in den Nachttreffs von Ä bis Freies Neukölln und Der Sandmann werden bezirksübergreifende Visionen geschmiedet. Der Saalbau Neukölln versteht sich als spartenübergreifendes Jugendzentrum für alle Generationen, und Deutschlands außergewöhnlichste Oper ist – klarer Fall – die Neuköllner Oper. Alles klar, Alter?! Man lässt sich die Nische nicht stören und die nächste Eckkneipe ist nah.
Das Museum Neukölln zeigt, dass es Berlin erst seit 1920 gibt. Zur damaligen Gebietsreform wurden acht Städte, die längst miteinander verwachsen waren, und sechzig Dörfer zu Großberlin vereint. Ein beachtliches Fotoarchiv und ein Atrium mit klassischen Wandelgängen lassen die fernen Zeiten vertiefen. In den Seitenstraßen aus Kopfsteinpflaster bewundern wir das Tomatenangebot und die zu Stangen gerollte Auslegware der Teppichverkäufer. Das Puppentheatermuseum an der Karl-Marx-Straße rettete Handpuppen und Marionetten aus vier Jahrhunderten und bringt sie bisweilen in Aktion. Am Richardplatz sind wir dann plötzlich am Dorf! Inmitten all der Mietskasernen das kleine Rixdorf mit Mittelalterhäusern, Vorgärten, Gartenzäunen und großen, alten Bäumen. Im Museum im Böhmischen Dorf, das von böhmisch-mährischen Exilanten gegründet wurde, die unter König Friedrich Wilhelm I. Schutz erfuhren, lernen wir von Johannitermönchen und Kreuzrittern. Einst sprangen auch Bären durchs Gestrüpp. Die Rixdorfer Schmiede steht dorfkirchlich am Anger. An der Feuerstelle werden lange Stangen geglüht und zu Balkonschmuck geschlagen. In original Mittelalterrezeptur entstehen auch die Hufe der Pferde im Gestüt nebenan: Kutschen Schöne vermietet Hochzeits-, Jubel- und Trauerkutschen. Weitere Kunstprodukte made in Neukölln offeriert die Galerie Colognialwaren. Gegenüber in der Villa Rixdorf gibt es überm Biergarten eine Dachgalerie mit Wohnutensilien der historischen Art. Durch viele Geschichtsepochen geworfen zeigt sich die Aufbruchskraft Neuköllns umso lebendiger. Und auch in den Outskirts des Dorfes Rixdorf wuselt das Produktive: Die Galerie Olga Benario prüft gesellschaftspolitische Zeitläufte an deren Utopie und Überzeugungskraft und wartet mit einem Kunst-Antiquariat auf. In der B-Lage treffen sich junge Leute zwischen sofaintensiven Wanddurchbrüchen, Riseberlin ist Plattform für außergewöhnliche Kunstprojekte, und bei Bauchhund sitzen wir unter der Galerie zur Darbietung intelligenzfördernder Maßnahmen in einem Kleinod im Keller. Oft bücken wir uns bei unserem Rundgang steile Siegen hinab in alte Kellergänge mit Tunneln und Holzverschlägen.
Durch ehemaliges Sumpfgelände spazieren wir zum Körnerpark, der mit Terrasse und Wasserspiel aussieht wie Sanscoussi – nur ohne Schloss. In der Orangerie die Galerie im Körnerpark im festlichen Fensterpavillon. Dahinter der Kunstraum t27 im idyllischen Villenhaus. Im L32, dem Flamigo Beach Hotel, das von Keller bis Dach von Künstlern gestaltet ist, übernachtet man preiswert. Der Schillerkiez um die großzügig begrünte Schillerpromenade wurde einst für gut situierte Bürger erbaut und liegt heute in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof [2]. Wir wandeln durch den Volkspark Hasenheide, des Bezirks beliebtestem Hundeauslaufreservoir. 1811 erfand hier der Turnvater Jahn genannte Friedlich Jahn – siehe Denkmal – mit Leibesübungen die Turnerbewegung. Der religiösen Vielfalt Berlins entgegenzukommen, entsteht im Park ein Hindu-Tempel. Wonach wir zum Hermannplatz kommen. Vom einst modernsten Kaufhaus Europas ist nicht viel übrig, denn es wurde 1945 von der Waffen-SS zerstört, um die darin lagernden Lebensmittel nicht in die Hände der Roten Armee [2] fallen zu lassen. Am Platz Jogginhosen-Markt. Wir flüchten in den U-Bahnhof, einem der sonnigsten der Stadt, und erwerben nebst Unterhaltung durch Straßenmusikanten auf nur zwei Stationen alle Obdachlosenzeitungen Berlins: die Motz, den Straßenfeger und Die Stütze.
Kreuzberg
Zurück am Kotti bei Nachwuchspunks, Kiezkommisaren und türkischen Reisebürobesitzern. Die O-Straße genannte Oranienstraße ist der Kudamm von Kreuzberg, war mal noch turbulenter, doch ist noch immer Szenetreff, Demonstrationszentrum und Ausgehmeile. Ecke Adalbertstraße bestaunen wir das mit monatlich wechselndem Kunstinventar gefüllte Schaufenster von SOx36. Zur Rechten des alten Lokals Kuchenkaiser konfrontiert die Intoxicated Demons Gallery urbane Kunst der Gegenwart mit den quirligen Realitäten des Viertels, die Produzentengalerie Scotty Enterprises ist ein paar Schritte weiter im kleinsten Haus der Stadt ein Experimentalraum für künstlerische Positionen, und am Heinrichplatz lassen sich im Auktionshauses Altenburg Fotografien ersteigern. Dazwischen Antiquariate, Schmuck, Off-Set-T-Shirts und altgediente Kneipen. In einer großen Fabriketage das vom Werkbundarchiv geleitete, einst im Gropiusbau prominent gewordene Museum der Dinge mit Alltagsgegenständen aus vielen Jahrhunderten. Die Kollektivkunstzentrale Neue Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK überzeugt seit Jahren als das Kunst-Herz von S036 durch außergewöhnlich kuratierte Ausstellungen. Wir pausieren in der Künstlerkneipe Bierhimmel gegenüber, schauen, ob es im SO36 noch Punk-Konzerte gibt (gibt es), bewundern diverse Kneipen, essen Kebab und verdauen auf der Wiese des Mariannenplatzes.
Dort schlossartig das Künstlerhaus Bethanien, ein ehemaliges Krankenhaus, das Anfang der 80er gesprengt werden sollte, doch mit Ausstellungen, Ateliers, Projektwerkstatt und Veranstaltungsort zu einem kreuzbergtypischen Kunstmittelpunkt avancierte. Wo war gleich die Mauer? Der ´antifaschistische Schutzwall´ lag hinter der Kirche und wurde begrünt. Seit über 30 Jahren lebt dort ein alter Türke in einem hölzernen Gartenhaus und erntet Obst und Gemüse. Linker Hand das Köpi, eine besetzte Halbruine voller Trash, und gegenüber das Deutsche Architektur Zentrum DAZ mit architekturrelevanten Präsentationen. Rechter Hand die Zentrale von Artificial Image, Fachwerkstatt für Fine Art Prints, in einer Berliner Fabriketage. Wir lassen uns beraten. Und setzen den Spaziergang durch den Wrangel-Kiez in den Görlitzer Park fort. In der Muskauer Straße die Galerie Mi-ope, in der Sorauer Straße Laura Mars, am Schlesischen Tor Zero Project und Peres Projects. Bei Studioxxberlin an der Skalitzer bietet Barbie Deinhoff in schnuckeligem Plüschambiente Kunst, Events und Modeschauen. Paul Reimert dagegen kreiert skulpturale Großcollagen aus Keramikscherben, die er aus der Nachbarnschaft erhält oder nach Flohmarktbesuchen eigenhändig herstellt, um sie mit Klebepistole in figürlichen Mosaiken wiederzubeleben. Seit 15 Jahren erlebt er in seinem Laden-Atelier an der Falckensteinstraße den Wandel um das Schlesische Tor: Zu Mauerzeiten das entlegendste Ende von West-Berlin - die U-Bahn-Gleise über der Spree waren gesprengt -, zog jüngst eine wieder mal neue Nachwuchsgeneration ein. Bei Trödel, Antiquariaten, Selbstgebasteltem, Milchkaffee und Bier bestätigt sich das Lied von den Kreuzberger Nächten, die lang sind. Wir feiern an halblegalen Orten und genießen im Club Watergate den Blick auf Oberbaumbrücke und die Spree.
Friedrichshain
Was gibt es Romantischeres, als im Gras des ehemaligen Grenzstreifens zu Füßen eines Wachturms zu erwachen? Jemand holt Kaffee. Selbstverständlich gibt es Kunst im Turm! Er gehört zur Kunstfabrik am Flutgraben, die gegenüber in einem lange leergestandenen Backsteingebäude Ateliers und Ausstellungen organisiert. An der Lohmühleninsel eine einst an der Sackgasse zur Mauer fremdelnde Tankstelle aus den 60ern, der Freischwimmer, der kreuzberggemütlichkeitstypische Biergarten von Heinz Minki, und die Arena samt Badeschiff und Hoppetosse. Nachtschwärmer sitzen am Kai. Das von den Treptowers und der Wasserskulptur Molecule Man umrahmte, weitläufige Niemandsland mit Flohmarkt und Baracken lebt noch heute von der Kluft zwischen Ost und West. Zum Treptower Park und dem Sowjetischen Ehrenmal hin führt mit riesigen Bäumen eine der prächtigsten Alleen der Stadt. Geschichte halluzinierend nehmen wir die S-Bahn zum Ostkreuz, einem der größten Umsteigeterminals Berlins, dessen Sanierung jahrelang verschoben wurde. Er stand Pate für die Berliner Ostkreuz-Agentur der Fotografen sowie für die Ostkreuzschule, und der Fotograf Grapf konservierte die Bahnanlagen bei allen Lichtverhältnissen.
Schon wieder eine neue Welt: Willkommen im Friedrichshain. Traditioneller Arbeiterbezirk. Da es nach dem Krieg in Ost wie West Prämien gab, den schlimm preußischen Stuck von den Wänden zu schlagen (heute gibt es Prämien, ihn wieder dranzukleben), verwechselt man die Gründerzeithäuser leicht mit der Banalstringenz der 50er Jahre. Viele Arbeitslose hier, viele Studenten auch. Es ist preiswert und trubelfrei. Endlich ist Berlin einfach und normal. Oma führt den Dackel Gassi und wir nehmen Currywurst mit Pommes. Und besuchen die im Kulturring organisierte Fotogalerie Friedrichshain und den Schauraum für Kunst und Text bei Tornado am Ostkreuz. In der Krossenerstraße eine Aktgalerie und die Cartoonfabrik. Das Supamolli in der Jessi bietet Konzerte, Gala und Hausbesetzerkneipe. Die DDR-Vergangenheit ist nicht weit: Im nahen Lichtenberg erleben wir im Stasimuseum des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit das Grauen einer pervertierten Staatsmacht. Erich Mielke hauste im biederen 50er-Jahre-Muff. Sein Kitschkabinett versammelt Geschenke befreundeter Diktatoren. Noch beklemmender ist der Besuch des Stasigefängnisses in der Gedenkstädte Berlin Hohenschönhausen.
Die Cartoonfrauen der Galerie Strychnin beleben, ebenso der No Style Kiosk, der die Mainzer Straße mit Plakatkunst und Kunstbucheditionen aufmischt. Die Diskursplattform der Galerie Tristesse Deluxe vertieft hinter den Säulen der ehemaligen Stalinallee gesellschaftliche und urbane Strukturen. Alles sehr epochenübergreifend hier: An den tortenhaften Massenwohnungen der Karl-Marx-Allee, die vom DDR-Star-Architekten Hermann Henselmann 1953 mit modernem Standard als größte sozialistische Prachtstraße der DDR im Stil der Bruderländer errichtet war, streikten 1961 die Arbeiter gegen Produktionssollerhöhung, doch der folgende Aufstand am 17. Juni [2] [3] wurde von den Russen kurzerhand niedergeschlagen. Westdeutschland installierte daraufhin einen Trauertag, der jedoch nach der Wende der Produktionssollerhöhung geopfert wurde. Einst nahm Erich Honecker an der Promenade die 1.-Mai-Paraden ab und feierte die Errungenschaften des Landes. Heute demonstriert man gegen die böse Welt. Bürger winken von Balkonen.
Am Kino International und dem Kunst-Pavillon des Café Moskau (einst DDR-Luxus-Restaurants, heute Tekkno- und Event-Tempel) geht es links in den DDR-Fußgängerzonen-Versuch der denkmalschutz- verdächtigen Schillingstraße. Neben dem Supermarktbungalow entdecken wir verwitternde Perlen ostdeutschen Fassadenschmucks an einer Ziermauer. Ein Fall für das Fotoprojekt Daily Joker, das berlintypische Muster und Objekte sammelt. Inmitten der zwischen Bäumen verteilten Plattenbauten wählte die Galerie Johnen in einem Glasbau einen Platz an der Sonne. Bestens geeignet für Picknick-Pausen. Auch gegenüber, zu Füßen des dreispitzigen Kompaktneubaus in den S-Bahn-Bögen, finden wir Platz für Besinnung. Und den Kult des Authentischen. Jahrzehntelang war da nichts. Über ein halbes Dutzend Galerien bespielen nun das einzigartig entrückte Flair von Stahl, Backstein und Platte. Atle Gergardsen, Vielmetter, Büro Friedrich, Arratia Beer und mehr. Sagenhafte Bogenräume mit Blick aufs Wasser.
Am gegenüberliegenden Ufer an einem Stil vortäuschenden Neubauschiff mit nudeldünnen Säulen und der verbunkerten Plastikbotschaft Chinas vorbei geraten wir in den Fabriketagen der Josettihöfe in die Showrooms und Werkstätten eines vielfältig gemischten Kreativpools. Von Ludwig kreiert den Styles Report Berlin, Hütten und Paläste bauen Datschen. Desweiteren Coaching, Design, Medien und Mode. Regelmäßige Kunstevents der Transit Lounge werden in Hof und Garten zelebriert. Nebenan die c-base, eine Event-Institution, die belegt, daß der Fernsehturm die Antenne eines riesigen, unter Berlin ruhenden Raumschiffes ist. Das Flagschiff der Stiftung Stadtmuseum Berlin hingegen ist das Märkische Museum. Seine klösterliche Ruhe inspiriert, und die Bilder und Objekte führen uns in ferne Realitäten und vergessene Viertel der Stadt. Wie ruhig Berlin mal gewesen sein muß! Und gleich hinter Mitte Wiesen und Felder. Nebenan der 1928 angelegte Bärenzwinger mit leibhaftigen Bären.
Mitte
Und dann endlich Alexanderplatz [2] mit denkmalgeschützten Behrens-Bauten, sozialistischer Brachial-Architektur bis zum Horizont, dem weltstädtischen Bahnhof aus Glas, und der Weltzeituhr, auf der der Bürger der DDR sehen konnte, wie spät es in den Ländern war, die er nicht besuchen durfte. Der kleine Mann ist zahlreich, denn es herrscht Kaufrausch im Billigsegment. Abends ist der Platz Treffpunkt von Halbstarken. Gegenüber das neue Einkaufsmonster Alexa, das an die Pyramiden erinnern soll, doch trotz Diskobeleuchtung einem Tanker am Meeresgrund gleicht. Die Ost-Architektur, in der sich der Arbeiter und Bauer seiner Kleinheit bewußt werden sollte, scheint unüberwindbar. Ob die Neubauten [2] helfen, die in Planung sind? Bei den Grill-Walkern nehmen wir Bratwurst, wir bewundern die erhaltenen Mosaike am Haus des Lehrers, das vor der Renovierung Kunstobjekt war, erfreuen uns am Nutten-Brosche genannten Brunnen der Völkerfreundschaft, erinnern uns an die Fassadenmuster am ehemaligen Centrum-Warenhaus, und finden bei ausBerlin an der neuen Straßenbahnhaltestelle New Berlin Lifestyle.
Unübersehbar der Fernsehturm. Im oberen Eingangsbereich Ausstellung. Wir genießen die Aussicht in der Drehkugel, sehen, wo wir schon überall waren, und werden uns bewusst, welch bescheidenes Ausmaß unser Rundgang hat. 3,4 Millionen Menschen tummeln sich in Sichtweite auf einer Fläche von knapp 900 Quadratkilometern. 50 Kilometer in der Diagonale nur Stadt. Weit mehr Berliner gab es vor dem 2. Weltkrieg (4,8 Millionen), nach dem Krieg waren es gerade noch 2 Millionen. Einen rasanten Bevölkerungszuwachs erlebt Berlin momentan nicht, da immer noch viele Berliner ins Umland ziehen. Unter uns die Museumsinsel und das historische Zentrum der Stadt. Das nur teilweise zerstörte Stadtschloss der Hohenzollern ist verloren, denn Ulbricht sprengte es, um das Hauptgebäude der DDR, den Palast der Republik, zu errichten. Er war ein Palast des Volkes. Nach der Wende wurde er wegen Asbestverseuchung geschlossen, was zu großer Trauer führte. Dennoch entschied man sich für Erdbodenangleichung. Zur wirtschaftlichen Errettung der Stadt wird ein Kaufhaus im Stil des Schlosses errichtet werden. Weit in der Ferne versuchen wir, die Museen Dahlems zu lokalisieren. In allen Richtungen wartet in naher Ferne noch ganz viel Kunst: von Lichtenberg bis Spandau, von Wannsee bis Pankow ein Netzwerk ästhetischer Leidenschaft. In Köpenick die Gesellschaft für Fotografie e.V., in Zehlendorf internationale Gegenwartskunst im idyllischen Haus am Waldsee und im Grunewald die vornehme Auktionsgalerie Bassenge. In Marzahn, der größten Trabantenstadt Deutschlands, hängt dank der in der Marzahner Promenade angesiedelten Galerie M Kunst in allen Platten, und in Dahlems Botanischen Garten vollendet sich das Natürliche am Landschaftsgestaltetem. Und erst Potsdam! Schlösser mit Kunstschätzen ohne Ende und Galerien in Villen am See. Welt, wir kommen!
Taumelnd nehmen wir den Aufzug, schlendern an den wegsanierten Rathauspassagen zum Roten Rathaus – da ist sicher auch Kunst drin. Davor die Statue einer Trümmerfrau [2] und der Neptunbrunnen, der einst Teil des Stadtschlosses war. Wir geraten ins Honni-Land genannte Nikolaiviertel: es wurde unter Erich Honecker nach historischen Vorlagen wiedererrichtet. Auch die Nikolaikirche, die aus dem 14. Jahrhundert stammende, zweitälteste Kirche Berlins – heute Museum - war bis auf die Umfassungsmauern vernichtet. Uns wundern die Plattenbausegmente an den Wohnetagen über dem historischen Gesims des Viertels, ohne die es bei Honni offensichtlich nicht ging. Auch das zweitälteste Gasthaus Zum Nussbaum ist wiedererstanden. Das älteste, Zur letztes Instanz, ist gleich hinter dem Turm des Alten Stadthauses. Uns wird Eisbein empfohlen. Die prächtigste Wohnung Berlins, eine gemütliche Gründerzeitstube, befindet sich im Knoblauchhaus, das Rokoko-Ephraim Palais gegenüber bietet auf drei Stockwerken Ausstellungen zur Berliner Kunst- und Kulturgeschichte, das Heinrich Zille Museum dokumentiert des Meisters Witz, und das Hanf Museum klärt Tanten und Onkels auf, deren kiffenden Enkel sich ehr in anderen Stadtteilen tummeln.
Marx und Engels, die verlassen auf dem gleichnamigen Forum verharren, provozieren das politische Gewissen. Wir legen eine Andacht ein und enträtseln die Fotogravuren an den Metallsäulen. Im einst von kaiserlichen Pferden und Kutschen belebten Marstall die Hochschule für Musik und die zentrale Berlin-Bibliothek. Gegenüber der verschwindende Palast der Republik. Er wird, seines Ruhmes Rechnung tragend, behutsam mit Nagelfeilen zersägt. Das dauert. Am Platz ist der White Cube, die Temporäre Kunsthalle Berlin geplant. Wir bestaunen im ehemaligen Staatsrat, heute Eliteschule für nur selten sichtbare Studenten, das berühmte Sozialistenfries im Treppenhaus. Und besuchen das backsteinerne Schinkel-Museum in der von ihm erbauten Friedrichwerderschen Kirche – schließlich hat Karl Friedrich Schinkel bis 1840 fast alles heute Historische in Berlin erbaut. Das Auswärtigen Amt steht als Sichtriegel vor der ehemaligen Reichsbank und dem späteren Zentralkomitee der DDR. Deren Außenministerium gegenüber wurde post Wende abgerissen, um Platz für die Pappfassade von Schinkels Bauakademie zu machen. Davor entdecken wir an der Schloßfreiheit, der sowohl das 1897 errichtete Deutsche Nationaldenkmal als auch das Schloss fehlt, eine Eiche direkt an der Spree. Das kleine Stück Erde unter dem Baum erscheint inmitten all der neuen Stadt als einer der unberührtesten Flecken Berlins. Einst wuschen hier vermutlich Mägde bei Gänsen und Schwänen Wäsche. Ein Angler hat einen Fisch im Eimer. Bis vor Kurzem noch ankerten drei Boote aus Beton. Auf vorbeifahrenden Schiffen wird gesungen. Wir füttern die Enten.
Im Prinzessinnenpalais erwarten uns kunstvoll arrangierte Torten. Dahinter, an der mittelalterlich anmutenden Durchfahrt der Schinkelpavillion. Der achteckige, an einen Garten grenzende Kleinbau ist ein Kleinod für Kunstpräsentationen. Spielte Friedrich der Große hier Flöte?! Wir werden von philosophischen Ausschweifungen ergriffen. Zwischen Deutscher Staatsoper Berlin, die 1741 als erste freistehende Oper Deutschlands errichtet wurde, und Kommode aber holt uns die Geschichte auf den Boden des Grässlichen zurück: Auf dem Bebelplatz fand 1933 die größte Bücherverbrennung Deutschlands statt. Die Bücherregale des unterirdischen Mahnmals sind ernüchternd leer. Gegenüber die Humbold Universität, in der Hegel versuchte, Vernunft zu verbreiten. An der Neuen Wache wurde einst das Schoß bewacht, zu Ostzeit fand jeden Mittwoch um 14:30 Uhr ein großer Wachaufzug statt, und Helmut Kohl funktionierte sie mit Käthe Kollwitz zur allgemeinen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft um. Von den vielschichtigen Vergangenheiten der Gegend benommen, gönnen wir uns die finale Geschichtsaufklärung im 1730 erbauten, ältesten Gebäude der Linden-Pracht, dem Zeughaus, in dem ursprünglich Waffen gelagert wurden. Jetzt ist es das Deutsche Historische Museum mit modernen Spiraltreppen von Pei. Wir bleiben lange, werden wiederkommen und auch in Zukunft das gigantische online Angebot nutzen.
Und erholen uns auf einer Wiesenparzelle am Lustgarten. Lange Jahre war er schotterbedeckter Aufmarsch- und Versammlungsplatz. Zu Füßen des Alten Museums flirten heute Berliner mit Touristen im Gras. Der Berliner Dom protzt in unevangelischer Monumentalität, in der Gruft liegen in teils klapprigen Sarkophagen tote Hohenzollern. Feierlich wie die Akropolis ragt die Alte Nationalgalerie auf einem künstlichen Tempelberg. Uns wird ganz warm ums Herz, auf der Museumsinsel im heiligen Kulturzentrums der Stadt zustehen. Einzig bei Nofretete hängt der Haussegen schief: Noch immer wartet sie auf die Fertigstellung des Ägyptischen Museums am historischen Standort des Neuen Museums. Im Pergamonmuseum dagegen sind die weltweit gesammelten Kunstschätze bereits seit 1921 wohlsortiert, und das Bodemuseum zelebriert mit Skulpturen, Münzen und Gemälden die wiedervereinigte Sammlung im frisch geputzten Haus. Ecke Dorotheenstraße bestaunen wir bei Auction on Limit (no web) Kleinutensilien, die bei Auktionen nicht versteigert wurden. Gegenüber das Ungarische Kulturinstitut mit Ausstellungen, Sprachkursen und Landeskunde. Mit Blick auf die Baustelleninsel feiert Contemporary Fine Art in einem lichten Neubau Moderne Kunst auf höchstem Niveau und mehreren Etagen.
Versessen auf weitere aktuelle Wirklichkeiten flanieren wir über die Friedrichsbrücke zum Polnischen Kulturinstitut und irren danach durch den Dom-Aquarée-Komplex, in dessen Aufzüge Fische schwimmen. Er machte Platz für das Palast-Hotel [2], das nach der Wende nicht mehr zeitgemaß war. Im östlichen Zentrum der Stadt offenbart sich der Kampf zwischen Gründerzeit, Ostkult und Westvision. Noch dominiert das Vakuum unplanmäßiger Zwischenwelten: An der Liebknechtstraße wurde eine klapprige Markthalle installiert, doch die S-Bahn-Bögen nebenan sind nach wie vor vernagelt. Die Marienkirche ist Zeugnis zeitläuftebedingter Einsamkeit – die Gegend war einst eng bebaut. Dem Döblin sein Alexanderplatz war kleinteiliger, urbaner und vielfältiger. Das sozialistische Plattenbaugebiet, das den Alexanderplatz nordostwärts einkesselt, steht ein für das schlechte Gewissen einer auf Unfreundlichkeit zielenden Utopie. Harald Hauswald konservierte die Nischen der menschelnden Zwischenfälle wider die Vergänglichkeit. Der Nachfolge-Kaufhof des Centrum Warenhauses wurde der Globalisierung geopfert, und nur der Fernsehturm überragt erfolgreich die westliche Welt. Zurück am Alex freuen wir uns auf eine Ausstellung, die sehr nah am Volk ist: Das von der NGBK – s. o. – kuratierte Projekt Kunst-statt-Werbung auf dem Bahnsteig der U2 aber gibt es nicht mehr, da der Sponsor Werbung attraktiv findet.
Wedding
Nach Besichtigung der werbegeläuterten Fahrgäste nehmen wir die U8 zur Pankstraße, um den Wedding kennenzulernen. Der „rote Wedding“ genannte Bezirk, einst Hort der sozialistischen Bewegung, steht für die wirtschaftliche Not Berlins – die Stadt ist hoch verschuldet und im bundesdeutschen Vergleich arm und hektisch, schmutzig, doch sexy. Im Wedding ist der Tonfall rauer, denn die Misere ist vergleichbar mit seinen Gründungszeiten, als die Arbeiter in die Fabriken der rasant wachsenden Industriestädte strömten, dann aber doch proletarisch in den Hinterhöfen endeten. Noch heute ist glücklich, wer der Gegend entkommt. Wedding ist geprägt von Leerstand, Migration und Jugendarbeitslosigkeit. Etwas Boom wäre wünschenswert. Um so erfreulicher, dass die Kunst bereits kam. Tendenz steigend. Denn das Zentrum ist nah, und in Mitte wird’s eng. Um den Soldinerkiez etablieren sich experimentierfreudige Kreativ-Schmieden. Die von Künstlern geführte Kolonie Wedding kommuniziert die Kunstaktionen von dreißig Projekträumen, und die Initiative Förderband verlegt den Kultourplan Wedding, der Orientierung gibt. Made by Soldiner Kiez koordiniert Selbständige und Existenzgründer.
In der Koloniestraße 131 gleich mehrere Galerien mit Vorstadtcafé. Bei Vierter Stock geht es die alten Holzplanken lohnend hoch hinauf, und Nering und Stern installierten den Projektraum der in Mitte ansässigen Zentrale ins Hinterhof-Idyll. In der Prinzenallee der Kunstraum Art Laboratory Berlin für interdisziplinäre Projekte und unweit die Galerie Art Digital mit russischem Schwerpunkt. Die Atmosphäre ist privat, man betritt die ehemaligen Wohnungen kommunikations- freundlich durch die Küche. Bar Art kombiniert im Backsteincafe Kunst mit Kuchen, und der Kulturpalast Wedding International bemüht sich im Umfeld der 50er-Jahre-Tristesse, Kleinkunst auf Weltniveau zu bringen. An der Osloerstraße die Jugendgalerie Anstalt Wedding und das Kindermuseum Labyrinth in der Fabrik Osloer Straße. Auch im weiteren Umfeld Galerien: Cluster im Backsteinensemble der Osram- Höfe, Lifebomb mit Independent Art und das mazedoniennahe Prima-Center. Über den Projektspace Uqbar, den Ausstellungsort mit Wohnatelier Visite ma Tente, den Raum [][][] und Copyright in der Schwedenstraße zeichnet sich die Tendenz des räumlichen Anschlusses an die Brunnenstraße und eine neue Eroberung von Mitte ab. Die Kunst mag, wie anderswo auch, zum Teil noch den Weg in die Zimmerstraße finden müssen, doch ist sie erfreulich frisch der Wirklichkeit abgewonnen. Im Wedding ist die Kunst im sozialen Kontext, und es macht damit endlich realpolitischen Sinn, Kunst vor Ort zu besuchen. Kurzerhand entscheiden wir, eine Wohnung zu nehmen. Ich werde meine Fotos collagieren, und mein Begleiter schnitzt gern. Klar, wir machen eine Galerie auf!
Matthias Groll